Leseprobe „Wir Kleinen glaubten, das Leben währt ewig“

978-3-943777-70-3_Hubert Ganswindt_U1Der Geruch des Juli-Wochenendes 1957.

Es gibt sicher viele Menschen, die sich gerade in zunehmendem Alter an kleine Begebenheiten aus ihrer Jugendzeit erinnern. Ich will auch gar nicht darüber nachdenken, warum das so ist. Da gibt es Fachleute, die das besser erklären könnten. Oft haben solche Erinnerungen, wenn erzählt, für andere Menschen kaum eine Bedeutung. Nur man selbst möchte diese Momente nicht missen. Sie nehmen vielfältige Gestalt an, für mich sind es die schönsten Erinnerungen. Sie überwiegen. Es gab sicher auch weniger schöne. Menschen nehmen solche Erinnerungen auf verschiedenerlei Weise wahr. Sie benötigen dazu vielleicht ein vergilbtes Foto, ein einziges, gesagtes Wort oder Ähnliches. Es gilt manchmal nur, das richtige Passwort für die Kopfdateien zu finden. Bei mir persönlich, das klingt vielleicht eigenartig, hängen Erinnerungen mit dem Geruch zusammen. Es gibt eben Menschen, die andere in des Wortes wahrstem Sinne riechen können oder auch nicht. Ich selbst habe, obwohl ich das nur vermuten darf, einen besonderen „Riecher“. Auch wenn wir heute neue und gegenwärtige Zeiten haben, erinnert mich mein Riechkolben an längst Vergangenes. Wie gesagt, es beunruhigt mich nicht weiter. Darüber wüsste die Fachwelt wohl aufzuklären. Sicher hängt das auch mit der Einmaligkeit des ersten Erlebens zusammen. Vieles davon wird später vielleicht zum Alltäglichen. Es wiederholt sich und wird so zu einer Sache, die man nicht mehr genau zuordnen kann. Aber Kindern, ich kann das ja gerade gut an mir selbst erkennen, haben sich in frühen Jahren alle Sinne geöffnet. Erwachsene Menschen sollten nicht glauben, Kinder bekämen vieles nicht mit. Sie bekommen fast alles mit und haben auch diese besonderen Antennen. Ich halte die Ansicht, dass uns die eigenen Wahrnehmungen gegeben sind, für falsch. Für mich ist so etwas kein geerbtes Genmaterial. Wahrnehmungen schaffe ich mir selbst. Sie werden von uns gemacht und sind das Ergebnis aktiver Tätigkeiten. Nur man selbst möchte diese schönen Erinnerungen nicht missen, die vielfältigste Gestalt annehmen können. Allerdings sind diese vielen Erinnerungen allzu oft von der Dunstglocke des alltäglichen Wahnsinns überlagert. Schöne Erinnerungen waren bei mir dabei und weniger schöne.

Aber einige sind so lebhaft vorhanden geblieben, als wären sie erst vor Kurzem passiert. Und doch sind es nicht dieselben. Sie sind aus der erlebten Vergangenheit. Gelegentlich versuche ich, mir beim Erinnern das erste Juliwochenende 1957 herbeizuwünschen. Es war ein Sonnabend und der sechste Juli 1957. Europa schmorte unter einer Gluthitze. Es muss um die Mittagszeit gewesen sein. Ich kann nicht mehr genau sagen, ob Sommerferien waren, oder ob wir an diesem Sonnabend frühzeitig hitzefrei bekamen. In den 50er-Jahren mussten wir auch noch am Sonnabend die Schulbank drücken. Mein Schulzeugnis jener Tage klärt das nicht auf, wenngleich Fräulein Benneckenstein bemerkte, dass ich mich kaum am Unterricht beteiligte. Daher sei meine Versetzung gefährdet. Der Wahrheit halber füge ich noch hinzu, dass ich in jener Zeit meine Schulaufgaben oft nicht machte. Wie dem auch sei, ich befand mich auf dem Weg von unserem Zuhause an der Grenzstraße, Richtung Strandbad Krupunder See. Ich lief barfuß, wie es sich für einen Jungen im Sommer gehörte und war nur mit einer Badehose bekleidet. Ein Handtuch schenkte ich mir an solchen Tagen. Es wäre nur unnötiger Ballast gewesen. Vermutlich steckten zwei oder drei Groschen Kleingeld in der Innentasche meiner Badehose. Es war immer viel zu wenig, aber mehr gab es nicht. Meine gelbe Badesaisonkarte hatte ich sicher nicht dabei. Man kannte mich an den zwei Kassenhäuschen. In den ersten Jahren hatten mein Bruder und ich das Privileg,  Saisonfreikarten zu besitzen. Das lag einfach daran, dass Uropa und unser Herr Papa auf dem See gelände tätig waren. Opa sammelte früher Papier und Unrat auf und unser Vater, ein gelernter Bau- und Möbeltischler, werkelte und reparierte viele Dinge aus Holz. Da waren die beiden Damen, denen das Seegelände gehörte, schon recht spendabel zu uns. Der heutige Tag versprach, besonders heiß zu werden. Man konnte in den  Tageszeitungen lesen, dass in Bayern die Quecksilbersäule auf 65 Grad Celsius in der Sonne schnellte, und selbst in Hamburg musste man an schattigen Plätzen 35 Grad Celsius ertragen. Die Städte und Gemeinden appellierten an ihre Bewohner, sorgsam mit dem Wasser umzugehen. Das Abspritzen der Häuser und Rasensprengen wurde unter Strafe gestellt. In solchen Momenten müsste auch dem Letzten klar geworden sein, dass das kühle Nass Lebenselixier und somit wichtigstes Nahrungsmittel war. Was das in den folgenden Jahrzehnten noch bewirkte, kann man heute gut erkennen. Warum vergisst der Mensch so schnell? Auf meinem Weg zum See lag ein eigenartiges Summen und Flirren in der Luft. Die ersten Minuten musste ich auf dem Rad- und Fußweg gehen. Linker Hand wuchs eine Ligusterhecke. Sie war knapp kindshoch und bot mir keinen rechten Schatten. Die Mittagssonne brannte unbarmherzig. Kein einziger Vogellaut war zu hören. Meine kleinen Schnabelchaoten brauchten ihre dünne und heiße Luft dringend zum Atmen.
Ich kam am alten Sandkrug vorbei und an seinem Gehölz, dem kleinen Hain stattlicher Bäume. Er bot mir für kurze Zeit kühleren Schatten und Luft zum Durchatmen. Dann führte von links ein kleiner Feld- und Baumschulenweg an die Altonaerstraße. Es war die Koppeltwiete, sie verlief genau gegenüber vom Hotel „Fuchsbau“. Dann reihte sich wieder eine Ligusterhecke, ebenfalls noch recht klein, vor einem Baumschulacker in Richtung Strandbad ein. Die kleinen Pflänzchen, die auf dem Feld wuchsen, waren gegen die Hitze mit Matten abgedeckt worden. Sie hätten sich in diesem Augenblick sicher gewünscht, Seerosen zu sein. Alles Grün duckte sich ab, um in der heißen Sonne unauffällig zu sein. Dann begann dieses Gefühl, dieser unnachahmliche Geruch, dieses sonderbare Rauschen bei gleichzeitig aufkeimender Freude. Es war nichts Infantiles, nur eine echte Momentaufnahme. Es war der näher rückende Rausch aberhunderter Stimmen von glücklichen und fröhlichen Menschen. Sie vergnügten sich im Strandbad. Und um mich herum stand diese flirrende Luft, die einem fast den Atem raubte, und gleichzeitig unmittelbar um mich herum herrschte eine Ruhe wie in einer kühlen Gruft. Meine nackten Füße durften nur kurz auf dem bitumierten Fußweg innehalten. Man sank sonst sofort leicht ein. Meine Beine hatten das Gefühl, als stünden sie auf einem Hefeteig. Es war ja auch nicht der Asphalt von heute. Heute fährt man größtenteils, ob nun auf der Brennerautobahn oder durch mein Krupunder, auf Asphalt von den Westindischen Inseln. Es ist bekannter als TrinidadTobago. Aus der Karibik kommt er, er wächst dort als natürlicher Rohstoff und kommt aus den Tiefen von Mutter Natur. Asphaltseen nennt man es dort. Mein Bitumen, auf dem ich aber einsank, roch noch ganz anders und war es auch. Dieser berauschende Mix paarte sich mit dem Duft von Liguster, Tannen und Thujahecken, der nahen Wiesen mit ihrem Geruch von frischem Gras und Rindern, von Butterblumen, Klee und Sauerampfer, dem Duft des nahen Bauernhofes, dem Misthaufen, von Tieren und dem Geruch von in der Sonne austrocknenden Milchkannen. Jetzt kam schon ein Duftspektrum vom nahen Kiosk dazu und davor noch ein Hauch von Sonnencreme. Das Rauschen schwoll jetzt an, mein innerer Freudentaumel unbeschwerter Kindertage nahm zu. Jetzt die Zeit und den Raum anhalten zu können, das hätte für einen Nobelpreis ausgereicht. Wie von unsichtbaren Kaskaden immerzu neu gespeist, wurden meine offenen Sinne ständig aufs Neue
befruchtet. Mein Leib- und Seelenbewusstsein spielte verrückt. Also, Drogen können auch nicht schöner wirken. Es war eine Symphonie der Sinne. Ich würde noch heute manches dafür geben, diese Minuten neu einzufangen, gegenwärtig zu machen und sie aufs Neue genießen zu können. Aber sie sind fort. Und auch nur mir bleiben sie in Erinnerung, wie sie waren. Mir ganz allein. Jahre später, ich hatte diese Zeilen schon längst in einer Schublade aufbewahrt, passierte mir folgendes. Etwa Mitte der Neunzigerjahre bekam ich ein Buch von Pavel Huelle in die Hände. Er ist ein polnischer Nachkriegsautor, Jahrgang 1957. Sein „Weiser Dawidek“ erschien als Taschenbuch im Fischer-Verlag. Er erzählt hier von einer Kindheit in Gdansk, dem früheren Danzig. Es ist die Geschichte eines Sommers mit gefährlichen Spielen, unerhörten Ereignissen und einem in der Luft schwebenden Jungen. Ich las dieses Buch mit viel Freude. Fachleute ordneten es als viertes Buch zu G. Grass’ „Danziger Trilogie“ ein. Das Buch selbst fängt immer wieder den Sommer 1957 ein. Dieser sehr schöne Roman spielt in der Danziger Bucht, könnte aber ebenso gut an denselben Tagen in anderer Form in Krupunder handeln. Es war wenig schön für die polnischen Kinder, die an der Ostsee wohnten und in den Sommerferien nicht in der nahen Ostsee baden durften. Das war Höchststrafe für sie! Sauerstoffmangel im Ostseewasser ließ ein großes Fischsterben einsetzen. Fischer harkten die verendeten Fischleiber am Strand zu großen Haufen zusammen. Und der Vernunft der Erwachsenen, aus gesundheitlichen Gründen nicht zu baden, mussten die Kinder sich beugen. Das war eine harte Nummer. Zur gleichen Zeit, hunderte Kilometer westlich, begann in unserer Nähe das große Fischsterben. Im Hamburger Isebekkanal, einem Nebengewässer der Alster, wurde das schnell deutlich. 200 Zentner toter Fisch wurden allein dort geborgen. Die „große Dürre“ gab es also wirklich. So viel zu diesen kleinen Ereignissen. Ja, die Welt wird auf einmal ganz klein. Die Gedanken aber sind unendlich frei. Und unsere Jugend gab uns auch das Recht, diese Jahre so zu genießen, wie wir es taten – und das über alle Grenzen hinweg. Die Erinnerungen, die Träume, aber auch Ekel und Hilflosigkeiten der Erwachsenen verblassten langsam oder wurden endgültig verdrängt. Es ging schon wieder voran, das spürte jeder. Ein neues Feindbild war längst ausgemacht. Und wir waren mittendrin. Die Ängste und Sorgen unserer Eltern konnten und wollten wir nicht teilen. Das Abenteuer der Jugend, das Spiel und die Infantilität riefen: der einsame Kampf mit dem selbstgeschnitzten Holzschwert, Mann gegen Mann, edel
und gut, die bunte Welt mit dem für uns Vielen, Unfassbaren und Neuem, unsere Gefühlsintensität und unsere Vorstellungskraft. Heute hat man das Gefühl, die Zeit rennt einem davon. Das kommt uns Älteren so vor, ist aber sicher nur das Erleben, in die verbleibende Zeitspanne noch so viel wie möglich hinein zu legen. Unser Zeitfenster wird langsam schmaler. Als Kind war ich der Meinung, ein Leben endet niemals.